Dieser Text ist die Substanz einer Rede die ich in Schaffhausen am 9. Mai 2015 hielt. Der Anlass war die Vernissage des Buches "Die Naturforschenden" herausgegeben von P. Kupper und B. Schaer, Ed. Hier und Jetzt, 2015. Das Buch ist ein Beitrag zum 200. Geburtstag der schweizerischen Akademie der Naturwissenschaften SCNAT. Ich bin Marcel Falk fuer die Korrektur zahlreicher Fehler dankbar.
Stellen Sie sich vor, Sie leben im Jahr 1815. Sie sind erwachsen, vielleicht nicht mehr ganz jung und schauen auf die vergangenen Zeiten zurueck.
Sie wurden waehrend der Herrschaft von Louis XV geboren, in einer Epoche, als die Macht von Gott heruntergegeben wurde und in wenigen Haenden lag. Diese alte Weltordnung ist aber unterdessen unter den Ideen des Siècle des Lumières und unter den Schlaegen der Bourgeoisie in Frankreich zerbröselt. Im deutschen Raum ist diese Revolution zwar noch nicht passiert, die neuen Ideen sind aber auch da vorhanden und koennen, unter anderem, in der Musik von Mozart gehoert werden. Der franzoesischen Revolution folgte dann der blutige Terror, wie Sie mit Entsetzen feststellen mussten. Danach ist Napoleon gekommen. Er ist mit Gewalt durch Europa gefegt, auch durch die Schweiz. Napoleon ist aber nicht nur mit Armeen unterwegs gewesen, sondern auch mit zum Teil genialen politischen Ideen. So hat er die Macht Berns gedaempft und Schluss mit den „Untertanengebieten“ gemacht. Damit hat er die ersten Faeden einer lebensfähigen Schweiz gespannt. Im 1815 sind aber die alten Machthaber wieder dran. Es ist die Restauration und Europa wird in Paris und Wien neu gezeichnet. In der Schweiz sind die konservativen Kraefte wieder stark. Es wird aber nur vorwiegend so sein. Die Ideen, die in den vorigen Jahrzehnten entstanden sind, sind zu schoen und verlockend, um einfach weggefegt zu werden.
In diesem Kontext gründeten einige Wissenschaftler von Genf und Bern im Hinterraum von Genf auf dem Mont Gosse im Oktober 1815 die Société Helvétique des Sciences Naturelles (SHSN) . In modernen Woertern ausgedrueckt, wollten sie die Wissenschaft unter die Leute bringen und fuer das Vaterland – wir würden heute Gesellschaft sagen, „nuetzlich“ machen. Sie wollten auch die bluehende Genfer Wissenschaft an die Schweiz anbinden. Das ganze Programm der Gruender der SHSN ist ihren Nachfolgern im Laufen der folgenden Jahrzehnten gelungen. Die Genfer Wissenschaft blueht immer noch in der Schweiz, auch wenn diese Tatsache von Zuerich aus gesehen nicht immer wahrgenommen wird. Die moderne Schweiz ist nur wenige Dekaden nach der Gruendung der SHSN entstanden und etliche wissenschaftliche Unternehmen, die sich innerhalb der SHSN entwickelten, wurden als wichtige Elemente des modernen Staates integriert. Man denke zum Beispiel an Meteoschweiz, an Swisstopo und an den hydrologischen und geologischen Dienste des Bundes, oder an dem schweizerischen Nationalfond.
Lassen Sie mich aber noch unterstreichen, wie modern die Ziele, die bei der Gruendung der SHSN erwaehnt wurden, noch, oder sollte ich vielleicht sagen, wieder sind: Unsere Gesellschaft steht vor Entscheidungen, die fuer das Erhalten unseres Lebensraumes von hoechster Wichtigkeit sind. Dies betrifft Themen wie Biodiversitaet, Klima, Energie, genetische Technologien und weitere. Im Juni stimmen wir auch ganz konkret ueber die Praeimplantationsdiagnostik ab. Die Vorbereitungen fuer diese Entscheide benoetigen viel Wissen in den verschiedensten wissenschaftlichen Domaenen. Dieses Wissen muss unabhaegig von finanziellen oder politischen Einfluessen entstehen und in der Politik gebracht werden. Genau das ist die Hauptaufgabe der heutigen Akademien der Wissenschaften. Wir sind also heute wie damals im Herzen des Prozesses, der die Wissenschaft nuetzlich fuer die Gesellschaft macht. Es ist auch interessant festzustellen, dass wir, wie damals, diese Aufgabe vor dem Hintergrund eines sich neu definierenden Europas erfuellen. Wir sind also den Akteuren der SHSN des 19. Jahrhunderts sehr viel naeher, als wir, wenigstens ich, bei der Lektuere der Gründungsworte zuerst gedacht hatten.
Die Leistungen die seit zwei Jahrhunderten im Rahmen der Akademie erbracht worden sind wurden von Menschen, die sich fuer ihr Wissen und fuer die Gesellschaft ihrer Zeit stark engagierten, erbracht. Es sind die Geschichten einiger dieser Menschen, die im Buch „Die Naturforschenden“ dargestellt sind und die wir Ihnen heute präsentieren werden.
Ich bin den Autorinnen und Autoren der Texte im Buch „Die Naturfoschenden“ dankbar, dass sie einige dieser Persoenlichkeiten in lebendiger Weise darstellen.