Dieser Beitrag wurde in der Neuen Zuercher Zeitung am 1. September 2015 publiziert. Er wurde im Zusammenhang mit der Vorbereitung einer Platform die Waehlern helfen sollte, Paralamentskandidaten im Licht der Wissenschaftlichen sensibilitaet zu beleuchten.

 

Die Gesetze der Natur lassen sich nicht – im Unterschied zu den vom Menschen gemachten Gesetzen – den Entwicklungen der Gesellschaft anpassen. Forschende stehen deshalb oft vor der schwierigen Aufgabe, Politikerinnen und Politiker über die Implikationen der Naturgesetze zu informieren. Beispiele sind der Verlust der Biodiversität, das nahe Ende einiger Ressourcen oder der Klimawandel. Diese Probleme brauchen Lösungen, die nicht immer einvernehmlich zu treffen sind und oft kurzfristigen Interessen entgegenstehen.

Die Themen besetzen einen besonderen Platz in der politischen Debatte. Sie verschwinden nicht von der Bühne, so lange kurzfristige Interessen echte Lösungen verhindern. Nehmen wir als Beispiel die Biodiversität, die Vielfalt des Lebens und damit eine entscheidende Grundlage, damit dieser Planet für uns Menschen bewohnbar bleibt. Im soeben von 35 wissenschaftlichen Institutionen der Schweiz veröffentlichten Bericht «Zustand der Biodiversität in der Schweiz 2014», dessen Erarbeitung das Forum Biodiversität der Akademie der Naturwissenschaften (SCNAT) koordiniert hat, ziehen die Forschenden einen ernüchternden Schluss: «Die Biodiversität in der Schweiz ist in den letzten Jahrzehnten weiter stark zurückgegangen und dieser Trend ist ungebrochen.» Dieses Beispiel steht für viele weitere Politikfelder der nachhaltigen Entwicklung: Trotz aktiver Politik und punktueller Fortschritte, der Abwärtstrend hält an. Dies gilt auch für die Klimapolitik. Die geplante Reduktion der Treibhausgas-Emissionen der Schweiz um 20 Prozent bis 2020 ist kein adäquater Beitrag zum 2-Grad-Ziel, wie der Bericht «Klimaziele und Emissionsreduktion» darlegt.

Die Gesellschaft muss aus diesen Fehlschlägen Lehren ziehen. Entscheidend wird dabei eine enge Zusammenarbeit von Wissenschaft und Politik sein.

Die Schweiz hat glücklicherweise eine lebendige Demokratie. Die Interessen werden darin äusserst sorgfältig austariert. In diesem filigranen System ist die Rolle von Forschenden aber notwendigerweise schwierig. Sie verfügen über für die Zukunft wichtiges Wissen und sind doch nur ein Stein im politischen Spiel. Das Wissen, das sie einbringen, wird oft nicht gehört oder aufgrund der mit viel Druck eingebrachten kurzfristigen Interessen relativiert. Um die Vermittlung des Wissens zu erleichtern, engagieren sich die Akademien der Wissenschaften deshalb stark im Dialog mit der Politik. Dabei gilt es zu beachten, dass die Forschenden in diesem Dialog keine eigenen Interessen vertreten und damit nicht Teil des Austaurierens der Interessen sind. Und sie dürfen und sollen nicht Teil der eigentlichen Politik-Arena sein: die Unabhängigkeit ist eine wichtige Voraussetzung für eine wissenschaftliche Politkberatung.    

Da die Forschenden nicht selbst politische Akteure im engeren Sinne sind, brauchen sie Politikerinnen und Politiker aller Parteien, welche die Grundzüge der Naturgesetze verstehen und mit welchen sie die wissenschaftlichen Fragen in die gesellschaftliche Debatte einfliessen lassen können.

Die Wissenschaft ist dabei alles andere als ein einfacher Gesprächspartner. Denn Wissenschaft liefert höchst selten einfache Lösungen. Die Messungen der physikalischen und ökologischen Grössen und ihre Extrapolationen sind immer begleitet von Unsicherheiten und einer regen wissenschaftlichen Debatte. Die Forschenden bemühen sich, diese Schwierigkeiten zu meistern und kommunizieren die Ergebnisse über Berichte, Factsheets, Stellungnahmen im Gesetzgebungsverfahren und in Treffen mit Politikerinnen und Politikern. Dabei werden der Stand des Wissens und Handlungsoptionen und deren mögliche Konsequenzen kommuniziert, offene Fragen angesprochen und die Anliegen und Fragen aus der Politik aufgenommen. Oft schlägt die Wissenschaft keine klaren Optionen vor, sondern spricht von alternativen Szenarien und von Wahrscheinlichkeiten. Ein «offenes Ohr für die Wissenschaft» bedeutet also, dass sich Politikerinnen und Politiker auf einen intensiven und offenen Dialog mit der Wissenschaft einlassen. Nur so wird eine evidenzbasierte Politik möglich.

In den Wahlen 2015 haben wir nun die Chance, mehr Politikerinnen und Politiker zu wählen, die den Mut, die Unabhängigkeit und die Ausdauer haben, um die Aussagen der Wissenschaft in die politischen Entscheidungen ernsthaft miteinzubeziehen. Wie aber finden Wählerinnen und Wähler die Kandidierenden mit einem offenen Ohr für die Wissenschaft? Die Akademien der Wissenschaften und der Schweizerische Nationalfonds haben dazu das Projekt ScienceDebate lanciert. In Zusammenarbeit mit der Online-Wahlhilfe smartvote bieten wir Informationen, damit Wählerinnen und Wähler einschätzen können, wie eine Partei bzw. ihre Kandidatinnen und Kandidaten mit Aussagen der Wissenschaft umgehen. Diese Informationen liefern keine eindeutigen Antworten und sind damit weit davon entfernt, Wahlempfehlungen zu sein. Aber sie vermitteln den Wählerinnen und Wählern ein Bild, eine Grundlage für ihre wichtige Wahl. Damit die unbequemen Wahrheiten zu den nötigen, oft unbequemen Lösungen führen – und nicht zu einer unbequemen Welt.

Thierry Courvoisier, Präsident der Akademien der Wissenschaften Schweiz