Die Schweizer Presse enthielt in den letzten Monaten Attacken gegen das Wissen. Der beiliegende Text ist eine Reaktion, die ich fuer das Schweizer Wissenschaftsmagazin Horizonte redigriert habe. Der Original text ist auf Franzoesich (siehe unten), er wurde von V. Amrein uebersetzt.
In den letzten Monaten tauchten in der politischen Debatte feindselige Äusserungen gegenüber den Geisteswissenschaften und generell gegenüber dem akademischen Wissen auf. Das Hauptargument war eine angeblich geringe Eignung der Absolventen unserer Universitäten, zur wirtschaftlichen Entwicklung unseres Landes beizutragen, vor allem wenn es sich um Absolventen der Geistes- und Sozialwissenschaften handele. Die Statistiken zu diesen Behauptungen wurden in den Medien breit diskutiert – aber die Zahlen machten nicht den Eindruck, als stiessen frisch diplomierte Studierende dieser Studiengänge auf besondere Schwierigkeiten.
Jenseits von Diskussionen über Zahlen hinterlassen die Attacken jedoch einen bitteren Geschmack. Richten sich solche Vorwürfe gegen eine einzelne wissenschaftliche Disziplin, wie in diesem Falle die Geistes- und Sozialwissenschaften, so entsteht der Eindruck, Bildung und Wissen in diesem speziellen Bereich würde stören; als wünschten sich die Urheber der Attacken bei ihren Mitmenschen eher Unwissen als geisteswissenschaftliche Kompetenzen. Aber eine Gesellschaft, in der gewisse Fachkenntnisse verboten oder zumindest erschwert werden, läuft Gefahr, genau jenen in die Hände zu fallen, die entscheiden wollen, was studiert werden darf und was nicht. Die Geschichte hat uns hinlänglich gezeigt, dass unsere Fähigkeiten, die Rolle einzelner wissenschaftlicher Erkenntnisse bei zukünftigen Entwicklungen vorauszusagen, sehr bescheiden sind. Wer hätte zum Beispiel um 1930 gedacht, dass die allgemeine Relativitätstheorie, deren Bedeutung auf Physik und Kosmologie beschränkt schien, einmal eine Schlüsselrolle in derjenigen Technik spielen würde, dank derer wir heute unsere Position mit GPS bestimmen können?
Es ist erstaunlich, dass Attacken auf die Wissenschaften häufig von Personen ausgehen, die anderweitig den freien Willen predigen und dass «der Markt» bessere Entscheide für die Entwicklung der Gesellschaft treffen würde als alle Kontrollorgane. Ich teile diese Meinung nicht, wäre aber davon ausgegangen, dass Menschen, die sich für wirtschaftsliberal halten, auch die freie Wahl bezüglich Studium und Berufsbildung zu schätzen wüssten.
Tatsächlich verlangt die Bewältigung der grossen Herausforderungen, vor denen unsere Gesellschaften stehen – Energiewende, Gesundheitssystem, Schwund der Biodiversität, Klimawandel, um nur einige zu nennen – nach Fachkenntnissen in allen Wissensbereichen inklusive der Geistes- und Sozialwissenschaften. Die zu entwickelnden Lösungen für Probleme, die die menschlichen Aktivitäten auf diesem Planeten mit sich bringen, erfordern sicher Kenntnisse in Physik, Chemie, Geologie und Biologie, in der Medizin oder in den Ingenieurswissenschaften. Aber es wird auch nötig sein, die Art, wie unsere Gesellschaften funktionieren, grundlegend zu verändern. Diese Veränderungen werden nur dann einigermassen harmonisch ablaufen, wenn wir zuverlässiges Wissen über die Psychologie der Bewohner des Planeten haben, sowie über die ökonomischen und gesellschaftlichen Mechanismen. Fortschritte in Richtung eines glücklichen Überlebens unserer Zivilisationen werden, wenn dieses Ziel überhaupt erreichbar ist, nicht möglich sein, ohne die Beiträge der Geistes- und Sozialwissenschaften in unsere Überlegungen mit einzubeziehen.