Dieser Text stammt von einer Rede die ich in Bern im Rahmen von "Es ist unsere Zukunft-jetzt reden wir", eine Diskussion die von Eurosearch am 2. Oktober 2014 organisiert war. Diese Veranstaltung war eine Konferenzreihe die die Wichtigkeit der internatioanlen Forschung für den Schweizer Nachwuchs beleuchten sollte. Diese Reflexion ist nach der Volksabstimmung von 9. Februar 2014 die die schweizer Forschung teilweise von der europäischen Gemeinschaft getrennt hat besonders wichtig. Eine kurze Version dieses Textes ist im Horizont, die Zeitschrift des National Fonds und der Akademien der Wissenschaften der Schweiz zu finden. Ich bin Valentin Amrhein für zahlreiche Korrekturen dankbar.

 

Wissenschaft und Forschung wird von Männern und Frauen betrieben, die in einer lokalen Kultur verankert sind. Trotzdem ist Wissenschaft universell und zutiefst international.

Dass Wissenschaft sehr stark von lokalen Effekten geprägt ist, wird zum Beispiel durch den Fall der Entwicklung von Halbleitertheorie und Plasmaphysik illustriert. In den dreissiger und fünfziger Jahren dominierten amerikanische und britische Physiker mit Modellen, in denen Elektronen entweder frei oder an die Atome gebunden waren. Es blieb allerdings schwierig, mit solchen Modellen die Eigenschaften von Festkörpern oder Plasmas zu erklären (Plasmas sind Gase, in denen die Teilchen elektrisch geladen sind). In der Sowjetunion hingegen lebten Physiker in einer Gesellschaft, in der kollektive Bewegungen die soziale Landschaft prägten. Die Physiker haben diese Denkweise in ihre wissenschaftlichen Gedanken überführt und kollektive Effekte eingeführt, die heutzutage als Phononen oder Plasmonen bekannt sind (A.B. Kojevnikov: Stalin's Great Science. Imperial College Press, 2004). Diese für die damalige Zeit originelle Denkweise erwies sich als sehr fruchtbar und ebnete den Weg zum Verständnis vieler Eigenschaften dieser komplexen Systeme.

Es gibt viele andere Beispiele, die zeigen, dass Forscher stets von ihrem kulturellen und gesellschaftlichen Umfeld beeinflusst werden. Letztlich gibt es so viele Beispiele der Zusammenhänge zwischen einer Zeit und einer Kultur auf der einen Seite und wissenschaftlichen Ergebnissen auf der anderen Seite, wie es Forschungsresultate gibt. Gewisse Kulturen waren der Wissenschaft nahe, wie die Entwicklung der Astronomie und Weltvermessung während der Antike zeigt, und andere Kulturen waren weiter von einer rationalen Weltanschauung entfernt, wie das relative Desinteresse des Mittelalters an der Astronomie beweist. Die Brücke zwischen den Wissenschaften der Antike und der Renaissance wurde von der arabischen Kultur gespannt.

In meinem Forschungsgebiet ist es interessant, festzustellen, dass die Fragen, die die Entdeckung von Quasaren in den sechziger Jahren aufgeworfen hat und die damals sehr aktiv erforscht worden sind, heute in den Hintergrund geraten sind. Quasare wurden entdeckt und beschrieben als bemerkenswert helle Objekte, deren Leuchtkraft sich schnell ändert. Es gab damals keine bekannten Objekte, die diese Phänomenologie zeigten. Es wurde schnell klar, dass am Ursprung dieser Erscheinungen sehr massive schwarze Löcher stehen, bis 10 Milliarden Sonnenmassen schwer, die grosse Mengen Materie schlucken, bis zu einigen Sonnenmassen pro Jahr. Wie dieser Akkretionsprozess genau funktioniert, ist aber sehr schwierig herauszufinden; das Interesse der Astronomen hat sich deshalb von diesem Thema abgewandt. Heutzutage sind Exoplaneten ins Zentrum des Interesses gerückt. Wir werden sehen, welche Themen in zehn Jahren im Vordergrund stehen.

Die Verankerung der Wissenschaft in einer Zeit und in einer Kultur ist nicht nur Bestandteil der Wissenschaft selbst, sie ist auch ein wichtiges Element des Dialogs mit der gesamten Gesellschaft. Nur diese Verankerung gestattet es, neue Ergebnisse fruchtbar zu machen. M. Faraday, ein hervorragender Physiker des Anfangs des 19. Jahrhunderts, illustriert diesen Punkt sehr schön. Faraday hat nicht nur die Physik der Elektrizität stark vorangebracht, er hat auch sehr konkrete Probleme seiner Zeit bearbeitet, wie etwa die Beleuchtung von Leuchttürmen, und er war ein sehr populärer Vortragssprecher in London.

Nur ein langer Weg führt von einer Idee oder einer Intuition zu wissenschaftlichen Erkenntnissen. Dieser Prozess beinhaltet sehr viele Wechselwirkungen mit Forschern, die anders denken, die die ursprüngliche Idee kritisieren und bereichern und sie mit ihrer eigenen Denkweise konfrontieren. Es ist dieser Teil des wissenschaftlichen Entwicklungsprozesses, der zutiefst international ist. Nur Konfrontation mit anderen Milieus kann die Wissenschaft vom Lokalen zum universell Gültigen führen. Im obigen Beispiel zur Plasmaphysik waren es die Diskussionen mit den Amerikanern, die die ersten sowjetischen Konzepte zum Blühen brachten.

Der Grund, dass die Wissenschaft internationale Kontakte braucht, ist also nicht, dass sie starke lokale Wurzeln hat. Im Gegenteil, die lokalen Eigenschaften der Forschung brauchen sehr viele Berührungspunkte nach aussen, um zu universell gültigen Erkenntnissen zu wachsen.

Man könnte meinen, dass es in der Schweiz genug lokale Forschungsarbeit und in der Welt ausserhalb Europa  genug Internationale Kontakte gibt, um unsere Forschung aus unseren Laboratorien und Universitäten in die weite Welt zu tragen. Wenn das so wäre, könnten wir in der Tat wegschauen von Europa und unsere Arbeit so gestalten, dass lokale Entwicklungen eher mit Kollegen aus Übersee als mit europäischen Mitarbeitenden konfrontiert werden.

Es gibt viele Gründe dafür, warum eine solche Position unhaltbar ist. In der Spitzenforschung gibt es nur eine sehr kleine Anzahl Spezialisten. In einem kleinen Land wie der Schweiz gibt es einfach nicht genug Leute, die sich mit diesen für die Zukunft oft wichtigen Themen beschäftigen. Das Lokale muss daher über die nationalen Grenzen hinaus gedacht werden. Wann internationale Kontakte aktiv werden müssen, dann werden aber Distanzen wichtig. Es ist um Einiges leichter, seine Ideen in Paris, London oder München mit anderen Forschern zu konfrontieren, als dafür nach Beijing, Tokyo oder Seattle zu reisen. Also ist auch im Bereich der internationalen Wechselwirkung Europa für die schweizer Forschung essenziel.

Wir haben in Europa den immensen Vorteil, eine unglaubliche Dichte von Kulturen auf einem relativ kleinen Raum zu haben. Dies bedeutet, dass die Konfrontation, die im wissenschaftlichen Prozess nötig ist, vor unserer Haustür stattfinden kann.

Uns von Europa im wissenschaftlichen Umfeld zu trennen, heisst, dass unsere Forschung von den Wechselwirkungen mit anderen Kulturen nicht mehr profitieren kann. Wer meint, dass die europäischen Kontakte durch interkontinentale Kontakte ersetzt werden können, übersieht nicht nur die daraus folgende Verarmung der Wechselwirkungen, sondern auch, dass hohe Hürden im ohnehin schon aufwändigen Prozess der wissenschaftlichen Kommunikation hinzugefügt würden. Schlussendlich würde eine Trennung der Schweiz von der europäischen Wissenschaft zur Folge haben, dass die hierzulande entwickelte Forschung nicht mehr den Anspruch erheben kann, universell Gültiges zu schaffen.

Ausserdem müssen wir feststellen, dass die heute massgebenden Forschungs-geografischen Einheiten eine kontinentale Grösse haben. Man denke an Nordamerika, Russland, China oder Indien. Diese Einheiten haben zwar kontinentale Dimensionen, sind aber tatsächlich Nationen. Nur in Europa gibt es eine grosse Anzahl Nationen auf relativ kleinem Raum. Ein Blick auf eine politische Weltkarte genügt, um sich von diesen geografischen Unterschieden zu überzeugen. Oft denken die Bürger dieser europäischen Nationen, ihre jeweils eigene Nation sei gross genug, um in der weltweiten Konkurrenz ihren Platz zu verteidigen. Dem ist aber nicht so, und das ist leichter in der Schweiz festzustellen, in der wir wissen, wie klein wir sind, als in einer der europäischen Nationen, in denen noch gedacht und gesagt wird, dass sie eine geschichtlich überlieferte Weltrolle spielen würden. Kein Land in Europa ist aber gross genug, um in der Wissenschaft ganz alleine das Wettrennen mit den anderen Teilen der Welt zu gewinnen.

In der Wissenschaft bearbeitet man gemeinsam grosse und ferne Ziele. Das wirft über politische Spannungen oft ein Licht, das Perspektiven ändert: Probleme erscheinen, als wären sie leichter zu bewältigen. Ausserdem ist Wissenschaft ein rationales Vorgehen, und sie kann helfen, mit rationalem Blick das Ausmass der Weltspannungen besser zu überblicken. Beides zeigt, dass Wissenschaft einen wertvollen Beitrag zum Weltfrieden leisten kann. Auch das ist ein wesentlicher Aspekt der internationalen Kultur der Forschung.